Der „BUND SOZIALDEMOKRATISCHER JUDEN - AVODA“ im Spannungsfeld zwischen Zionismus und Diaspora-Existenz, traditionellen Werten und der Moderne

von Ernst Meir Stern

Hundert Jahre Tradition! Wie wir wurden, was wir sind, wie wir ticken, was wir für unsere Gemeinde und für Israel anstreben und tatsächlich tun ...

Schon wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wurde der „Bund Werktätiger Juden“ zur Mitglieder- und wählerstärksten jüdischen Partei und war damit nahezu drei Jahrzehnte an führender Stelle für die Geschicke der jüdischen Gemeinde in Wien verantwortlich. Der „Bund“ wie er bis heute genannt wird, war stets die Interessensvertretung der „kleinen Leute“, also der Arbeiter und Angestellten sowie der sozial benachteiligten Gemeindemitglieder. Er brachte zahlreiche hervorragende Persönlichkeiten hervor, die als Präsidenten, Kultusvorsteher und Kommissionsmitglieder bedeutende Leistungen für die jüdische Gemeinde erbrachten.
Wie auch der Grad der religiösen Ausrichtung galt die zionistische Gesinnung und Aktivität der Mitglieder und Funktionäre im „Bund“ in diesen Jahren mehr oder weniger als „Privatsache“. Wenn auch die Arbeit für die Gemeinde stets an erster Stelle stand,  trat der „Bund“ in all seinen Schriften und Aktivitäten doch  stets leidenschaftlich für die Belange des jungen Staates Israel ein.
Mit den sich ändernden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und demographischen Bedingungen, denen man in unseren Reihen nicht rechtzeitig Rechnung trug, setzte in den Jahren des „Wirtschaftswunders“ ein  politischer Erosionsprozess ein, der schließlich zum Verlust der Mehrheit im Kultusvorstand führte. Auch aus Altersgründen lichteten sich die Reihen der Aktivisten. Mitte der 90er Jahre des mittlerweile vergangenen Jahrhunderts war der „Bund“ endgültig zu einer Splitterpartei im Kultusvorstand geschrumpft, der von politischen Konkurrenten  – mehr oder weniger triumphierend - das baldige Verschwinden prophezeit wurde. Einzig durch die nach wie vor regelmäßig erscheinende Zeitung „Der BUND“ war man in der Öffentlichkeit noch präsent, hielt zionistisch-sozialdemokratisches Gedankengut hoch.
In dieser Situation gelang es schließlich, einige ambitionierte jüngere Leute zur Mitarbeit zu gewinnen und gemeinsam mit den verbliebenen älteren, aber geistig jung gebliebenen Funktionären ging man daran, den „Bund“ an Haupt und Gliedern zu reformieren, zeitgemäß Inhalte, politische Strategien und Konzepte zu erarbeiten. Nach und nach stießen weitere Aktivisten dazu.
Die Ernte  wurde bei den Kultuswahlen des Jahres 1998 eingefahren. Nach einer schwungvoll absolvierten Wahlkampagne zog die bereits totgesagte Fraktion, die ihren Namen mittlerweile auf „Bund Sozialdemokratischer Juden-Avoda“ geändert hatte, zur allgemeinen Überraschung mit zwei Mandaten in den Kultusvorstand ein, wo sie alsbald, und das bis zum heutigen Tag, durch ihre dynamische und konstruktive  Politik der „kritischen Kooperation“ Furore machte. Eine der ersten Maßnahmen war auch die Entsendung ständiger Delegierter in die Zionistische Föderation, zu deren aktivsten Kräften wir seither zählen.
Worin unterscheidet sich nun der Bund von allen anderen im Kultusvorstand vertretenen Gruppierungen? Zum einen definieren wir uns nicht über den Grad der Religionsausübung, das mag jede(r) halten, wie sie / er will. Wir haben ein klar definiertes weltanschauliches Profil, und das ist zionistisch – sozialdemokratisch. Damit heben wir uns deutlich von anderen nicht – religiösen Fraktionen ab, die eher Konglomerate verschiedener Weltanschauungen und Interessensgruppen darstellen. Wir schöpfen unsere Kraft und Überzeugungen aus den Werten und besten Traditionen der Sozialdemokratie, vor allem des legendären „Jüdischen Arbejter - Bund“ der Vorkriegszeit. Was an Idealen vom historischen „Bund“ übernommen wurde, war das soziale Engagement, die Einsicht in die Notwendigkeit einer weitgehenden Autonomie jüdischer Gemeinwesen, der damit verbundene Ausbau von Gemeindestrukturen, die Erziehung der Jugend zu jüdischen Werten, die Pflege jüdischen Erbes und der Schaffung zeitgemäßen Kulturgutes. Es freut uns, feststellen zu können, dass der nunmehrige Ehrenpräsident der Kultusgemeinde diese Visionen mit uns stets teilte.
Trotz freundschaftlicher Kontakte mit der SPÖ auf vielen Ebenen sind wir dennoch keine ihrer Teilorganisationen und scheuen uns auch nicht, intern und öffentlich deutlich Kritik zu äußern, vor allem wenn es die Haltung und  Aktivitäten mancher Funktionäre gegenüber Israel und den Konfliktherden im Nahen Osten betrifft.
Es ist sicher kein Zufall, dass mehr als die Hälfte unserer Aktivisten ihre Sozialisierung in der zionistisch – sozialistischen Jugendbewegung des Haschomer Hazair erlebten und dieser bis heute nicht bloß emotional  eng verbunden sind.
Wie  erwähnt, verfolgt der Bund bei der Mitarbeit in den Gremien der Kultusgemeinde eine konsequente Politik der „kritischen Kooperation“. Unsere Mitglieder arbeiten im Kultusvorstand, in zahlreichen Kommissionen und Gremien ehrenamtlich und engagiert mit bzw. leiten diese, und versuchen, mit Vorschlägen, Initiativen sowie Konzepten eine überwiegend konstruktive Rolle zu spielen und Verantwortung zu übernehmen. Wo es unserer Meinung nach Kritikwürdiges oder Missstände gibt,  vertreten wir jedoch konsequent unseren Standpunkt. Aber auch dies im Rahmen einer politischen Kultur, die dem Andersdenkenden durchaus Respekt entgegenbringt und sachliche oder auch grundsätzliche Konflikte niemals auf einer persönlichen Ebene austrägt.
Dem sich anbahnenden Generationswechsel in der jüdischen Gemeinde ins Auge sehend, sind auch wir bestrebt, uns kontinuierlich zu verjüngen und laden daher alle jüngeren Menschen, die unsere Wertvorstellungen teilen, herzlich zur Mitarbeit ein. Wer allerdings hofft, es gäbe Pöstchen oder lukrative Pfründe zu vergeben, liegt bei uns falsch. Wir suchen „altmodische“  Idealisten, die nicht fragen, was die Gemeinde für sie tun könnte, sondern vielmehr „was kann ich für meine Gemeinde tun?“
Natürlich lebt auch der „Bund“, wie alle zionistischen Parteien in der Diaspora, im Spannungsfeld zwischen zionistischem Bewusstsein, der Notwendigkeit, für die Interessen des Staates Israel aktiv zu sein einerseits, und gleichermaßen,  den Realitäten der sich durchaus dynamisch entwickelnden Existenz jüdischer Populationen außerhalb Israels Rechnung zu tragen. Aber wer hat behauptet, dass das Leben, insbesondere das politische, ein Einfaches ist?