Als jüdischer Sozialdemokrat

zur SPÖ, ihren politischen Versäumnissen und Todsünden

von Ernst Meir Stern

Heulen und Zähneklappern herrscht in der SPÖ, nachdem ihr große Teile der vermeintlichen Stammwählerschaft bei der Präsidentenwahl die Gefolgschaft verweigert hatten. Die geringste Schuld daran trifft wohl Rudolf Hundstorfer, der sich dies sicher nicht verdient hat. Das Debakel hat viele andere, tiefer liegende Gründe, die von vielen in der mittleren Ebene der Partei eingesehen, doch von ihrer „Nomenklatura“, in erster Linie mit ihrem Machterhalt und dem daraus resultierenden ständigen Zurückweichen  vor Populismus beschäftigt, viel zu wenig realisiert und berücksichtigt wurden.

  Zum einen ist da der gesellschaftliche Wandel. Die einstige Arbeiterklasse ist zur Mittelschicht geworden, die unter starken Ängsten vor Verlust an Arbeitsplätzen, Lebensqualität, und der ihr suggerierten „Überfremdung“ leidet. Diese Bevölkerungsschicht tendiert mehrheitlich zu einem Konservativismus. Und das, einst „Proletariat“ genannte Segment, die „Modernisierungsverlierer“ ist – Achtung, politisch unkorrekte Verallgemeinerung – nicht ausreichend gebildet und geschichtsbewusst, um nicht auf die Rechtspopulisten hereinzufallen. Der SPÖ ist auch der Vorwurf nicht zu ersparen, viele Intellektuelle sträflich vernachlässigt und vergrault zu haben.

  Zurück zum Thema „Machterhalt“. Wie der Koalitionspartner auch, hat die SPÖ in den letzten Jahrzehnten Posten in Ministerien, Ämtern und Zweigen der Wirtschaft ungeachtet der Qualifikation oder des Charakters mit „ihren Leuten“ besetzt. Die ließ man sich, flog einmal ein Skandal auf, als erste Reaktion um keinen Preis „herausschießen“. Diese Günstlingswirtschaft kam in der Bevölkerung, nachdem sich die Medien darauf gestürzt hatten, alles andere als gut an. Von den „Schwarzen“ hatte man es nicht anders erwartet – doch an eine SPÖ werden aus Tradition strengere ethische Maßstäbe angelegt! Und die exzessiv - brutale Freunderlwirtschaft mit fatalen Folgen der schwarz – blauen Koalition unter Schüssel ist auch schon wieder vergessen.

  Einen gewichtigen Katalysator im Erosionsprozess von Prinzipien und Werten spielen auch Kreise in der ÖVP, die längst daran arbeiten, mit Straches „Freiheitlichen“ zusammenzugehen, sei es als Mehrheits – oder wenigstens Juniorpartner. Daher tun sie alles, um die Koalition zu sprengen und mit immer radikaleren Forderungen die SPÖ vor sich herzutreiben. Und diese, um des lieben Koalitionsfriedens willen, gab nach und immer wieder nach, bis die politischen Grenzen sich verwischten und die FPÖ in manchen Punkten inhaltlich und semantisch noch rechts überholt wurde. Dies wird von breiten Kreisen der Parteimitglieder als Aufgabe von Werten und Prinzipien angesehen. Und bei Wahlen erhielt schließlich trotzdem oder gerade deswegen „Schmied“ FPÖ und nicht der „Schmiedl“ die Stimmen.

  An dieser Stelle ein Einschub, von dem vor allem zahlreiche mir weltanschaulich Gleichgesinnte nicht angetan sein werden: Den viel kritisierten Schwenk der SPÖ von der bedingungslosen „Willkommenskultur“ gegenüber Flüchtlingen zu rigorosen Grenzkontrollen halte ich für ebenso richtig wie die Begründung von Kanzler Feymann, solange es keine wirksamen Maßnahmen der EU – Staaten gäbe, die Schengen – Grenzen zu sichern, hätte Österreich die Pflicht, zunächst einmal Restriktionen beim Zulassen von Flüchtlingen und der Asylpolitik zu üben. Jetzt müsse einmal alles unternommen werden, um den über 90.000 Asylsuchenden die Möglichkeit zur Integration zu geben. Weiterer unkontrollierter Zuzug würde dies unmöglich machen. In meinen Augen ist das kein inhumanes Einschwenken auf die FPÖ – Linie, sondern Gebot der wirtschaftlichen und politischen Vernunft. Bloß - man hätte dies auch parteiintern besser, eindringlicher und öfter kommunizieren müssen!

  Ein nicht unmaßgeblicher Faktor ist die Rolle der Medien. Ich konzediere der Koalitionsregierung, dass sie doch, wenn auch behäbig, arbeitet. Viele rasch beschlossenen Gesetze und Maßnahmen sich zwar als Husch – Pfusch – erwiesen, im Großen und Ganzen aber doch einiges an Reformen weitergebracht wurde. Doch wurde auch dies viel zu wenig und unbeholfen kommuniziert.

  Verschlimmert noch durch  die populistische Unkultur mancher Boulevardmedien, jedwede, in einer Koalition stinknormale, Diskussion oder Debatte gleich zu einem „Koalitionskrach“ hochzuspielen. Letztendlich bekamen die Leute natürlich genug von diesen permanenten „Koalitionsstreitereien“. Die Folge ist eine weit verbreitete Politik – und Politikerverdrossenheit. Wer’s nicht glaubt, der konsumiere die Leserbriefseiten der Kronen-Zeitung! Genau diese Verdrossenheit ist Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten, von denen sich immer mehr Österreicher ihr „Heil“ durch einfache Lösungen und eine „starke Führung“ erwarten.

  An dieser Stelle gestatte ich mir einen kleinen Schwenk auf die, gesamtösterreichisch natürlich nahezu bedeutungslose, Rolle der jüdischen Österreicher. Auch hier gibt es eine nicht unbeträchtliche Gruppe Menschen, die in patriarchalischen Traditionen aufwuchsen und gegenüber dem Wunsch nach dem „starken Mann“, der sagt, wo’s lang geht, nicht immun sind. Vor allem imponiert ihnen,  dass sich die FPÖ ja neuerdings medienwirksam  als edler Schutzherr der Juden und Israels ausgibt. In besseren Zeiten konnte davon ausgegangen werden, dass das Judentum nahezu geschlossen sozialdemokratisch wählte. Dem ist längst nicht mehr so. Vor allem seit Kreisky’s Nahostpolitik und dass Kreise in der SP und so mancher ihrer Schwesterparteien offen mit den Palästinensern und HAMAS sympathisieren sowie dem Buhlen um Wählerstimmen aus der judenfeindlichen türkischen Community. Dagegen werden die aufrichtigen Freunde Israels in der Partei in jüdischen Gemeinden weit weniger wahrgenommen. Ungerecht, aber Faktum.

  Ich bezichtige die Verantwortlichen der SPÖ der absoluten Ignoranz und Unkenntnis dessen, was sich „im Volk“ abspielt. Säßen die Damen und Herren Würdenträger öfter an oder neben den Stammtischen, vor allem in den Bundesländern, und hörten zu, was nach dem vierten, fünften Bier

an Demokratieverachtendem, Rassistischem und Antisemitischem„ „de Judn durtn in Wean“, „a klana Hitla g’herat her“, Hitla             so geäußert wird, dann hätten längst schon sämtliche Alarmglocken läuten müssen!

  Völlig realitätsverweigernd auch die Annahme, die Mitglieder würden der Partei und ihrem Kandidaten im Wahlkampf folgen. Viele haben zwar noch ein Parteibuch (man kann ja nie wissen, wozu man es noch einmal brauchen kann) doch innerlich haben sie sich von der Sozialdemokratie längst schon verabschiedet. Ich erinnere mich, als meine Mutter und ich 1969 (nach fünfzehnjähriger Wartezeit) eine schöne Gemeindewohnung in der neuen Per Albin Hansson Siedlung Ost bezogen. Da flatterte am 1. Mai vor jedem Fenster die Fahne mit den drei Pfeilen. Ein paar Jahre später konnte man die Fähnchen an den Fingern abzählen…

  Es sollte der Partei, auch und vor allem der Wiener, die ich für wesentlich prinzipientreuer halte, massiv zu denken geben, dass gerade in den Großbezirken mit ihren vielen Sozial – und Gemeindebauten die überwältigende Mehrheit für den „blauen“ Kandidaten stimmte. Das hatte sich schon bei den Gemeinderatswahlen abgezeichnet und wird sich bis zu den nächsten Wahlen zum Nationalrat wohl kaum ändern. Angesichts dieser vielen „Baustellen“ besteht dringender Nachdenk – Diskussions – und Handlungsbedarf! Die SPÖ wird sich schleunigst entscheiden müssen, für wen sie steht und arbeiten will. Als Partei für die Wirtschaft, die Mittelschicht oder der gesellschaftlich und sozial Benachteiligten. Welche ihrer Werte und Prinzipien „über Bord geworfen“ oder beibehalten werden sollen. Und ob sie unter Umständen bereit ist, sich als Oppositionspartei neu aufzustellen und  auf einen sehr langen Marsch allmählicher Gesundung zu begeben. Personaldebatten halte ich derzeit für zweitrangig. Erst wenn der künftige Kurs fest steht, sind diejenigen als „Steuermänner / frauen“ zu bestimmen, die am ehesten imstande sind, diesen zu vertreten. Bei der Stichwahl stimme ich selbstverständlich für Van der Bellen. Ehrensache.